27.05.2024
Das Wissen um die Ursachen und Treiber von Krebs wächst exponentiell. Entsprechend rasant entwickeln sich auch neue Therapien gegen Krebs. Wo die Krebsmedizin heute steht und was sie anstrebt, berichten Dr. Hagen Krüger, medizinischer Leiter der Krebsmedizin bei Pfizer Deutschland, und Dr. Christian Rosé, Seniordirektor Mammakarzinom bei Pfizer International.
Hagen Krüger: Die erste Therapieentscheidung sollte nicht überstürzt werden, denn die Ersttherapie bestimmt, welche Folgetherapien möglich sind. Es gibt inzwischen verschiedenste Behandlungsoptionen gegen Krebs. Betroffene sollten sich also durchaus eine ärztliche Zweit- oder auch Drittmeinung einholen, bis sie sich informiert genug fühlen, ihre individuelle Therapieentscheidung zu treffen. Im günstigsten Fall geht es um Heilung. Im zweitgünstigsten um Lebensverlängerung und Optimierung der Lebensqualität.
Christian Rosé: Selbst eine metastasierte Krebserkrankung ist heute oftmals kein unmittelbares Todesurteil mehr. Bei manchen Krebsformen wie z.B. Brustkrebs sind wir auf dem Weg zur Chronifizierung. Man kann mit solchen Erkrankungen oftmals noch viele Jahre leben. Deshalb sollte man sich auch durch Spezialist:innen behandeln lassen.
Rosé: Vor zehn- bis 15 Jahren war die Chemotherapie das Mittel der Wahl. Heute haben wir eine große Bandbreite an Therapiemöglichkeiten, unter anderem die Immuntherapie, die Therapie mit Antikörpern und kleinen Molekülen, die Zell-Therapie und Antikörper-Wirkstoff-Konjugate. Das macht auch die Diagnostik entsprechend komplex. Noch bis vor wenigen Jahren wurden beispielsweise beim Lungenkrebs drei wesentliche Unterarten unterschieden. Heute differenziert man anhand von molekularen Markern mehr als 15 Subtypen. Diese Marker beeinflussen wiederum die Therapieentscheidung.
Krüger: Wir haben die Pathophysiologie von Krebs inzwischen so gut verstanden, dass wir immer besser und zielgerichteter behandeln können. Gleichzeitig ist der Fortschritt exponentiell. Pfizer bringt derzeit 1 bis 3 onkologische Wirkstoffe pro Jahr neu auf den Markt und will die Überlebensrate bei einigen der tödlichsten Krebsarten bis 2040 verdoppeln. Jeder Wirkstoff hat eine eigene Dosierung, eine eigene Zulassung für bestimmte Krebssubtypen, ein eigenes Nebenwirkungsspektrum. Selbst, wenn ein Arzt oder eine Ärztin mittels Fortbildungen am Ball bleibt, ist das komplex. Deshalb spezialisieren sich viele Onkolog:innen inzwischen auf zwei, drei Krebsarten.
Krüger: Früher war die Krebsmedizin ein Dreiklang aus Bestrahlung, Chirurgie und Chemotherapie. Die Chemo erreicht allerdings neben der Tumorzelle in ausgeprägtem Maße auch das gesunde Gewebe, was zu Nebenwirkungen und Folgeschäden führt. Das Ziel der modernen Onkologie ist es, immer zielgerichtetere Therapien zu entwickeln und das Verhältnis zwischen Wirksamkeit und Nebenwirkungen immer weiter zu verbessern.
Rosé: Grob kann man sagen, dass heutzutage – wenn man den speziellen Bereich der Zelltherapie und die altbekannte Chemotherapie mal außen vorlässt – drei medikamentöse Therapieoptionen zum Zuge kommen:
Kleine Moleküle, also Stoffe, die in die Zelle eindringen können und von innen Mechanismen blockieren. Z. B. gibt es beim Brustkrebs den so genannten HER2-Rezeptor, ein Eiweiß, das die Zelle zur Teilung antreiben kann, so dass der Tumor aggressiver wird. Kleine Moleküle können solche Signalübertragungswege gezielt blockieren.
Das Gleiche kann man auch von außerhalb der Zelle mit Antikörpern erreichen: Man blockiert damit Rezeptoren an der Zelloberfläche und stößt dort zudem immunologische Wirkungen an. Zu den aktuell sicherlich innovativsten Ansätzen gehören die sogenannten bispezifischen Antikörper. Sie können zwei unterschiedliche Zielstrukturen erkennen und bringen dann beispielsweise eine Krebszelle mit einer körpereigenen Immunzelle zusammen.
Und dann gibt es noch die Möglichkeit, an das Antikörpermolekül eine Chemotherapie zu koppeln. Das sind so genannte Antikörper-Wirkstoff-Konjugate, englisch ADCs (Antibody Drug Conjugates). Sie sind somit eine Verbindung von Chemo- und zielgerichteter Therapie.
Krüger: ADCs sind ein hochaktuelles Forschungsgebiet, auf dem viele Firmen sehr aktiv sind. Warum? Weil wir heute zirka 50 oberflächenspezifische Moleküle von Zellen kennen, die wir als mögliche Angriffspunkte für diese innovativen zielgerichteten Therapien nutzen können – mit dem Ziel einer hohen Wirksamkeit bei geringen Nebenwirkungen. Pfizer hat sich 2023 durch die Akquisition des ADC-Spezialisten Seagen auf diesem Gebiet verstärkt. Wir versprechen uns viele neue Wirkstoffe mit einem optimierten Wirksamkeits-Nebenwirkungsprofil.
Rosé: Bei einem ADC wird ein Antikörper an einen sehr giftigen chemotherapeutischen Wirkstoff gekoppelt, der – für sich betrachtet – Patient:innen gar nicht verabreicht werden könnte. Da der Stoff nun aber an einen Antikörper angebunden ist, findet er weitgehend gezielt zur Tumorzelle – denn Antikörper erkennen bestimmte Oberflächenstrukturen dieser Zellen. Der Antikörper bindet also an die Tumorzelle, die ihn im nächsten Schritt in sich aufnimmt, indem sie innen ein kleines Bläschen bildet, in welchem sich auch Enzyme befinden. Letztere sorgen dafür, dass der Wirkstoff in der Zelle freigesetzt wird und sie abtötet. Je nachdem, wie der Wirkstoff aussieht, kann er ggf. zudem auch aus der Zelle in das umliegende Gewebe wandern, um dort weitere Tumorzellen abzutöten. Man spricht hier von einem sogenannten Bystander-Effekt.
Eine besondere Rolle nimmt das Verbindungsstück zwischen Antikörper und dem Chemotherapeutikum ein, der sogenannte Linker. Der Linker des ADC-Spezialisten Seagen kann durch eines der Enzyme in dem kleinen Bläschen im Inneren der Tumorzelle gespalten werden, so dass der Chemo-Wirkstoff sehr schnell in der Zelle freigesetzt wird. Viele der ADCs, die heute auf dem Markt sind, arbeiten mit diesem Linker-Payload-System.
Krüger: ADCs elektrisieren die Onkologie so sehr, weil wir damit hochtoxische Stoffe in verträglicher Art und Weise gezielt an den Tumor bringen können. Pfizer ist seit Beginn dieser Entwicklung dabei und hat mittlerweile vier ADCs in der Hämatologie sowie beim Urothel- und Zervixkarzinom auf dem Markt. Weitere ADCs sind für verschiedenste Tumorerkrankungen in der Entwicklung. Das erste ADC, ein Präparat von Pfizer, wurde übrigens bereits 2000 gegen eine Form des Blutkrebses zugelassen.
Rosé: Daran forschen wir. Denkbar sind beispielsweise Wirkstoffe, durch die das Immunsystem den Tumor schlussendlich besser erkennen und bekämpfen kann. Letztlich ist die Kombination verschiedener Ansätze erfolgversprechend: Die Tumorzelle abtöten und gleichzeitig das Immunsystem triggern. Das sind die Wünsche in Richtung Zukunft – und erste Ansätze sieht man schon.
Krüger: Die Erwartungen sind noch nicht abschätzbar. Aber die Zwischenergebnisse sind faszinierend. Bei Brustkrebs kann man ohne Übertreibung sagen, dass die Behandlung durch ADCs revolutioniert wurde. Es ist plausibel, dass sich das z.B. auch bei Blut-, Lungen- und Blasenkrebs reproduzieren lässt.
Krüger: Sie sollte es. In Deutschland werden, je nach Region, bis zu 50 % der Patient:innen nicht in zertifizierten onkologischen Zentren behandelt. Auch werden die Empfehlungen der interdisziplinären Tumorkonferenzen häufig nicht vollständig umgesetzt. Dabei weiß man, dass die leitliniengereichte Behandlung das Leben von Patient:innen verlängert.
Um die Krebsmedizin mit KI voranzubringen, hat Pfizer mit OPTIMA (Optimal Treatment for Patients with Solid Tumors in Europe) ein entsprechendes Projekt auf EU-Ebene initiiert. Neben KI spielen Real-World-Daten hier eine entscheidende Rolle: OPTIMA trägt als Datenplattform verschiedener EU-Länder Gesundheitsdaten zusammen, darunter auch Daten zu Therapiesequenzen, die im Versorgungsalltag aus patienten-individuellen Gründen angewendet, aber in klinischen Studien noch nicht gut untersucht wurden. KI identifiziert solche Therapiesequenzen über Mustererkennung, so dass sie dann damit klinisch beforscht werden können.
Andererseits soll OPTIMA durch eine Computer-gestützte, leitlinienbasierte Entscheidungsunterstützung für Ärzt:innen die Behandlungsqualität in der Fläche fördern. Dies ist besonders deshalb relevant, weil in den nächsten zehn Jahren mehr Onkolog:innen in Rente gehen als Neue hinzukommen. Gleichzeitig steigt der onkologische Bedarf durch eine älterwerdende Bevölkerung kontinuierlich an. Wir hoffen, dass ein solches Entscheidungstool künftig dabei hilft, die jeweils voraussichtlich am besten wirksame und verträgliche Therapie für Patient:innen in ihrer jeweiligen Situation zu identifizieren.
Alles in allem haben wir heute viele Optionen und können Krebs besser behandeln als jemals zuvor. Die rasanten Entwicklungen in der Diagnostik, bei den Therapieoptionen und im Bereich der KI werden die Krebstherapie in den kommenden Jahren weiter entscheidend verbessern.