Die Medizin zählt zu den größten Innovationsfeldern unseres Jahrhunderts. Einer der mächtigsten Treiber ist Künstliche Intelligenz (KI). Insbesondere an der Schnittstelle von Biologie und Datenwissenschaften entstehen ganz neue medizinische Möglichkeiten.
Zwei große Entwicklungen treiben den medizinischen Fortschritt derzeit voran: Zum einen erleben wir in der Biologie eine Art Datenexplosion, da sie immer tiefer in die menschliche Zelle eindringt. Zum anderen ist inzwischen die Rechenleistung vorhanden, mit der Künstliche Intelligenz riesige Datenmengen kombinieren und analysieren kann.
„Wo wir noch vor zehn Jahren aus einem Tropfen Blut etwa 20 000 Datenpunkte erhalten haben, bekommen wir jetzt 20 000 Datenpunkte für jede einzelne der Tausenden von Zellen in diesem einen Blutstropfen“, sagt Dr. Daniel Ziemek, Computerwissenschaflter und KI-Experte bei Pfizer.
Und nicht nur das: Auch in der medizinischen Behandlung entstehen Unmengen an Bild- und Textdaten, etwa durch MRT-, CT- oder Röntgenbilder, durch Gewebeproben und Arztnotizen, aber auch durch Vitaldaten von Fitnesstrackern und Wearables.
So wie „Big Data“ derzeit die gesamte Industrie zur Industrie 4.0 umkrempelt, so wird sie auch die Medizin und den Medizinbetrieb verändern. Das fängt mit der intelligenten Steuerung von Verwaltungsprozessen an, etwa in Krankenhäusern oder bei Versicherungen.
Es geht über Chatbots und Sprachsysteme für Patient:innen und medizinisches Personal bis hin zur Diagnostik und Wahl der Therapie. KI prägt aber auch ganz wesentlich die Forschung an neuen Medikamenten.
Hier stellen wir Ihnen fünf Anwendungsbeispiele für den KI-Einsatz rund um medikamentöse Therapien vor.
Jede Arznei zielt auf ein bestimmtes Molekül im Körper ab. Der Wirkstoff muss zu diesem „Target“ passen wie ein Schlüssel zum Schloss. Forschende pharmazeutische Unternehmen haben Bibliotheken mit vielen Millionen potenzieller Wirkstoffe, die sie bei der Entwicklung einer neuen Arznei screenen. Künstliche Intelligenz beschleunigt diese Suche enorm.
Als Pfizer eine Therapie zur Behandlung von COVID-19 SARS-CoV-2 entwickelt hat, sagte maschinelles Lernen anhand von Millionen von Datenpunkten voraus, welche Moleküle sich am besten für eine orale Einnahme eignen würden. Das Ziel war, ein Medikament für die einfache/eigenständige Einnahme durch Patient:innen zu schaffen anstatt einer Infusion, die im Krankenhaus verabreicht werden müsste. Bereits vier Monate nach Beginn des Forschungsprogramms war der spätere Wirkstoff ein erstes Mal hergestellt.
Eine der wichtigsten Substanzbibliotheken von Pfizer mit 4,5 Milliarden potenziellen Wirkstoffen kann dank leistungsfähiger Rechner heute innerhalb von 48 Stunden durchsucht werden.
Wie bereits oben beschrieben zielt ein Medikament immer auf ein bestimmtes Interventionsziel (Target) im Körper ab – in der Regel ist ein Protein der Angriffspunkt für Medikamente . Pfizer versucht mit einem Tech-Partner, die Biologie der rheumatoiden Arthritis im Rechenmodell zu verstehen.
Dazu werden sämtliche Daten, die derzeit zu dieser Erkrankung verfügbar sind, in ein Krankheitsmodell übertragen: genetische Daten, Daten zu den Proteinen, Patient:innendaten aus klinischen Studien und vieles mehr. Mit dem Modell möchten die Wissenschaftler:innen die Biologie hinter der Erkrankung genau verstehen, um einerseits neue mögliche Zielpunkte für Therapien zu identifizieren.
Andererseits wollen sie vorhersagen, welche Patient:innen am besten auf welche Behandlung ansprechen. Das könnte eines Tages auch bedeuten, dass ein potenzieller neuer Wirkstoff an diesem Rechen-Modell getestet wird, bevor er den Menschen in klinischen Studien verabreicht wird.
Bilderkennung gilt bislang als die eigentliche Stärke der KI: Algorithmen werden mit Zehn-, Hunderttausenden von Bildern für das Erkennen bestimmter Krankheitszeichen geschult. Mit jedem weiteren Bild lernen sie dazu.
KI in der medizinischen Diagnostik wird heute schon in der Augenheilkunde, Dermatologie, Endoskopie, Krebsmedizin, Pathologie sowie der Radiologie eingesetzt. Algorithmen erkennen beispielsweise Lungenkrebs oder Schlaganfälle anhand von CT-Scans. Sie liefern Indikatoren für das Risiko eines plötzlichen Herztodes oder anderer Herzerkrankungen anhand von Elektrokardiogrammen und Herz-MRT-Aufnahmen. Sie sagen bei Brustkrebs voraus, wie Patient:innen voraussichtlich auf Chemotherapie reagieren.
In Freiburg, Wiesbaden und Leipzig analysiert ein Deep-Learning-Verfahren die Livebilder während einer Darmspiegelung und markiert auffällige Stellen. Auf diese Weise können frühzeitig bis zu 10 Prozent mehr Darmkrebsfälle entdeckt werden. Es gibt viele Anwendungsbeispiele mehr.
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Die Diagnostik medizinischer Bilder dürfte in wenigen Jahren grundsätzlich Algorithmus-basiert sein, denn der Computer ist in diesem Bereich dem Menschen überlegen. Er kann auch die Rate von Fehlbefunden senken.
Mit dem immer feineren Verständnis der Molekularursachen von Erkrankungen wachsen auch die therapeutischen Möglichkeiten der Präzisionsmedizin. Ärzt:innen müssen deshalb bei der Wahl der individuell besten Therapie eine Fülle an Informationen überblicken.
Das wird insbesondere im Bereich der Krebsmedizin deutlich, wo das molekulare Verständnis verschiedener Krebsarten schon weit gediehen ist. So kennt man bei Lungenkrebs heute zwölf verschiedene Treibermutationen, die mit verschiedenen Therapien gezielt behandelt werden können.
Auch wird versucht, durch Kombinationstherapien – also die gleichzeitige Anwendung verschiedener Behandlungsoptionen – ein besseres Therapieansprechen zu erzielen.
Indem man die Behandlungsverläufe und -ergebnisse von Patientengruppen digital dokumentiert, zusammenführt und mittels KI auswertet, lässt sich erkennen, welche Therapien bei welcher molekularen Ausgangslage jeweils wie gewirkt haben.
Diese Erkenntnisse können dann wieder in digitale Therapie-Entscheidungs-Programme einfließen: Patient:innen profitieren somit von den Erfahrungen vieler anderer. Das EU-Projekt OPTIMA führt daher gezielt Krebsbehandlungsdaten – Real World Data – großer Patientengruppen zusammen, um daraus Therapieempfehlungen für Ärzt:innen abzuleiten.
Gleichzeitig verspricht man sich durch solche Real World Data weitere Erkenntnisse für die Optimierung von Therapien. Man spricht inzwischen von der evidenzgenerierenden Versorgung.
Schon bei Föten sind genetische Marker für Erbkrankheiten erkennbar. Ob ein Mensch einmal krankhaftes Übergewicht entwickeln wird, lässt sich aus den Gesundheitsdaten von Zweijährigen auslesen. Auch eine beginnende Demenz erkennt Künstliche Intelligenz mit einer Genauigkeit von 82 bis 90 Prozent.[1]
Die Datenwelt von heute hebt die vorausschauende Risikomodellierung auf eine neue Stufe. Schon immer war in der Medizin die Häufung von Krankheiten in der Familie relevant, um das entsprechende Risiko für eine Erkrankung eines Patienten abzuschätzen. Durch „Predictive Analytics“ wird diese vorausschauende Risikoabwägung noch genauer.
Sie verspricht den Übergang von einer reaktiven episodischen Medizin, die erst einsetzt, wenn Symptome entstehen, zu einer prädiktiven, präventiven und personalisierten Medizin. Menschen können der Krankheit dann im besten Fall zuvorkommen, etwa über gesunde Lebensführung oder präventive Medizin.
Künstliche Intelligenz meint als Überbegriff, dass Computerprogramme etwas lernen. Voraussetzungen sind große Datenmengen (Bild- und Textdaten) sowie die entsprechende Rechenleistung.
Maschinelles Lernen ist als Teilbereich der KI eine Computersoftware, die sich selbst trainiert. Dazu zeigt der Mensch der Maschine sehr viele Daten zu einem Thema – z. B. Bilder von Zellen – und gibt Grundregeln dazu: Was ist gesund, was krank? Was erwünscht, was unerwünscht? Nach kurzem Training kann die Maschine dann eigentätig die Zellen
Neuronale Netze/Deep Learning: Der Durchbruch des maschinellen Lernens kam durch künstliche neuronale Netze, deren Struktur einem biologischen Gehirn nachempfunden ist. Das ermöglicht komplexes Lernen mit Informationsknoten und -schichten.
Die Grundsätze dieser Technologie gab es schon im letzten Jahrhundert, aber erst durch das Internet wurden enorme Mengen von Trainingsdaten zugänglich, beispielsweise in Form von Fotos mit Beschriftung, die man zum Lernen nutzen konnte. Gleichzeitig wurden Computer immer schneller und billiger. Plötzlich gelang es, neuronale Netze mit vielen Schichten („Deep Learning“) erfolgreich zu trainieren, und die Renaissance der Künstlichen Intelligenz begann. Angespornt durch diese Erfolge haben viele Forscher versucht, ähnliche Methoden auch bei kleineren Datenmengen erfolgreich zu nutzen. Davon profitiert nun die biomedizinische Forschung und Anwendung.